Antike Aufgaben für moderne MathematikerMit ganzen Zahlen können schon Kinder umgehen. Um mit Brüchen zu hantieren, muss ein Dreikäsehoch schon einige Jahre Primarschule hinter sich haben. Und irrationale Zahlen - solche, die sich nicht als Bruch zweier ganzer Zahlen ausdrücken lassen - sind am schwierigsten zu handhaben. Genau umgekehrt verhält es sich bei der Lösung von Gleichungen. Oft ist es einfach, irrationale Lösungen zu finden. Wenn aber die Aufgabe ausschliesslich ganze Zahlen als Lösungen zulässt, wird alles viel schwieriger. Der Teil der Mathematik, der sich mit solchen Gleichungen befasst, heisst Zahlentheorie. Charakteristisch für diese Disziplin ist, dass Fragestellungen zu Anfang meist täuschend einfach scheinen. Erst bei der Suche nach Lösungen offenbaren sich die horrenden Schwierigkeiten. Als Begründer der Zahlentheorie gilt der griechische Mathematiker Diophantos, der vor etwa 1800 Jahren in Alexandrien lebte. In Erinnerung an ihn werden Gleichungen mit einer oder mehreren Unbekannten, deren Lösungen ganzzahlig sein müssen, diophantische Gleichungen genannt. Das Hauptwerk von Diophantos, die »Arithmetika«, ging im Jahre 391 beim Brand der kleinen Bibliothek von Alexandria verloren. Erst im 15. Jahrhundert wurden 6 der ursprünglich 13 Bücher wiederentdeckt. 1968 kamen 4 weitere Bücher in einer unvollständigen arabischen Übersetzung zum Vorschein. Lange Zeit wurde niemand klug aus den Schriften des alten Griechen. Der Erste, der die Werke verstand, war der französische Justizbeamte und Freizeitmathematiker Pierre de Fermat, der heute vor allem wegen der «Fermat'schen Vermutung« bekannt ist. Eine aus Diophantos' Zeiten herrührende, immer noch nicht vollständig gelöste Frage ist, welche Zahlen als Summe von dritten Potenzen zweier ganzer Zahlen oder Brüche ausgedrückt werden können. Bei 7 und 13 funktioniert das, denn 7 = 2 3 + (-1)3 und 13 = (7/3) 3 + (2/3)3. Man nennt solche Summen kubische Zerlegung einer Zahl. Wie steht es aber zum Beispiel mit 5 oder mit 35? Die Beantwortung dieser Frage setzt komplizierteste Methoden der modernen Mathematik voraus. Bis jetzt können die Mathematiker zwar nicht die Lösung für jede beliebige Zahl angeben, aber immerhin können sie entscheiden, ob eine Zerlegung überhaupt existiert. Dabei helfen ihnen mathematische Funktionen, sogenannte L-Funktionen. Um zu entscheiden, ob eine gegebene Zahl kubisch zerlegt werden kann, berechnen die Mathematiker die L-Funktion dieser Zahl. Schneidet oder be- rührt diese Funktion die x-Achse des Koordinatensystems genau bei 1, dann kann die betreffende Zahl kubisch zerlegt werden. Andernfalls existiert keine Zerlegung. Für die Zahl 35 ist diese Bedingung erfüllt, und tatsächlich gilt: 3 3 + 23. Diese Summe kann man sich graphisch als zwei Würfel mit den Kantenlängen drei und zwei vorstellen. Die zur Zahl 5 gehörende L-Funktion kreuzt die Achse jedoch nicht bei 1, womit bewiesen ist, dass 5 nicht in Kuben zerlegt werden kann. Ein führender Mathematiker, der sich eingehend mit solchen Aufgaben befasst, ist Don Zagier, Direktor am Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn. Schon als Kind galt Zagier als Genie. 1951 in Heidelberg geboren, wuchs er in Amerika auf und machte seine Matura im Alter von 13 Jahren. Mit 16 erhielt er das Mathematik- und das Physikdiplom vom amerikanischen Massachusetts Institute of Technology. Das Doktorat folgte drei Jahre später in Oxford. Mit 23 habilitierte er sich, und im Alter von 24 wurde er der jüngste Professor in Deutschland. In Wien hielt er kürzlich zwei Vorträge »Perlen der Zahlentheorie«: einen innerhalb der renommierten Vorlesungsreihe der »Gödel Lectures« und einen anderen aus Anlass der Eröffnung des »math.space« im Museumsquartier, eines Präsentationsraums, in dem der Wiener Öffentlichkeit die Mathematik nahegebracht werden soll. Wie man das macht, legte Zagier in seinem Vortrag dar. Der kleingewachsene Professor zeigte eine Performance, die einem Rockstar zur Ehre gereicht hätte. Während der quirlige Herr zwischen zwei Hellraumprojektoren hin und her sprang und in perfektem, wenn auch amerikanisch eingefärbtem Deutsch das Publikum begeisterte, stand ihm die Freude an seinem Fach ins Gesicht geschrieben. Dass dieser Wissenschaft manchmal Trockenheit vorgeworfen wird, hätte sich ein Beobachter, der die Szene von aussen betrachtet hatte, nie gedacht. g.szpiro@nzz.ch Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 16.3.2003 |