Das Delta der Gleichungen: Hinab in das unendlich Kleine!

Newton versus Leibniz: Wer hat die Differenzialrechnung erfunden? Carl Djerassi hat den Streit der Giganten in ein Theaterstück gepackt.

(RUDOLF TASCHNER) Es ist eine fromme Mär, dass in der Wissenschaft weder Hass noch Intrige herrschten. Im Gegenteil: Je abgehobener die Disziplin vom Weltgetriebe ist, desto brutaler können die Auseinandersetzungen geraten. So ertränkten die Pythagoräer einen der ihren, Hippasos von Metapont, im Meer: Nur weil er erkannte, dass keine Quadratzahl das Doppelte einer anderen Quadratzahl sein kann, und diese Entdeckung außerhalb des Geheimbundes der Pythagoräer verbreitete.

Zu Beginn der Renaissance provozierte die Herausgabe des Algebra-Lehrbuches von Geronimo Cardano die Todfeindschaft des Autors mit Niccolo Fontana, genannt Tartaglia: Dieser hatte Cardano unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten, wie er zu den Lösungen der Gleichung dritten Grades gelangte - eine Meisterleistung, die allen Mathematikern vor ihm verwehrt blieb. Und nun veröffentlichte Cardano diesen Geniestreich unter seinem eigenen Namen. Wobei - Ironie der Geschichte - bis heute die von Tartaglia entdeckte Formel den Namen seines Widersachers Cardano trägt.

Der wohl heftigste Streit um eine mathematische Errungenschaft tobte zwischen zwei Großen des späten 17. Jahrhunderts: Isaac Newton, Begründer der mathematischen Physik, und Gottfried Wilhelm Leibniz, dem letzten Universalgelehrten. Um eine scheinbare Nichtigkeit kämpften sie (und nach ihrem Tod ihre Epigonen): wer als erster den Differenzialkalkül entdeckte.

In seinem Theaterstück "Kalkül" gewährt der Chemiker und Schriftsteller Carl Djerassi einen Einblick in die Abgründe Newtons, dem keine Intrige zu schäbig, kein Winkelzug zu peinlich war, wenn sie nur dem Ziel dienten, seine Priorität zu belegen.

Warum bewirkte gerade der Differenzialkalkül ein solch heftiges Gefecht aufgeklärter Wissenschafter? Weil dieses Verfahren nicht bloß irgendwelche vertrackten Probleme löst, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein Weltbild entwirft. Zuvor hatten Arithmetik und Geometrie gelehrt, quantitative und räumliche Sachverhalte statisch zu verstehen, die Welt gleichsam als eine unzusammenhängende Folge einzelner Augenblicke zu beschreiben, so wie man Fotos in einem Album einzeln betrachtet. Mit dem Differenzialkalkül gelingt es, die unendlich vielen statischen Momente als eine Bewegung zu verstehen: Die Abfolge toter Bilder verschmilzt zum lebendigen Film. Momentane Änderungen, von Leibniz "Differenziale" genannt, werden zu Recheneinheiten, die sich in Gleichungen verweben lassen und so Prozesse modellieren. Alle treibenden Kräfte der Natur gehorchen Differenzialgleichungen. Kausalität, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, erfasst erst der Differentialkalkül.

Eine wunderbare Eigenart des Differenzialkalküls ist seine Schlichtheit: Ohne sich über das Warum seines Funktionierens Gedanken zu machen, stellen Physiker, Chemiker, Biologen, Ökonomen, Ingenieure nach ziemlich simplen Regeln Differenzialgleichungen auf. Selbst Newton und Leibniz wussten letztlich nicht, auf welcher fundamentalen Basis ihre Erkenntnis gründet. Sie mutmaßten, mit den Differenzialen in das "unendlich Kleine" hinabgedrungen zu sein, in jenen geheimnisvollen Bereich, wo man von einem Punkt einer Linie unmittelbar zum nächsten gelangt - was deshalb mysteriös ist, weil in Wahrheit zwischen zwei benachbarten Punkten einer Linie immer noch unendlich viele Platz haben.

Weil in den Augen von Newton und Leibniz Differenziale kleiner waren, als sie der Verstand fassen kann, darf man vermuten, dass beide als gottesfürchtige Männer der Überzeugung waren, sie verdanken den Differenzialkalkül der Eingebung des Schöpfers. Zu wem von ihnen sprach Gott als erstem? Diese bange Frage ist vielleicht der tiefe Grund für die Bitterkeit ihres Streits.

"Kalkül" von Carl Djerassi wird am 15. 3. um 17 Uhr in der Erste Bank Arena des Wiener Museumsquartiers aufgeführt. Der Eintritt ist frei. Info: http://math.space.or.at.


DIE PRESSE, 10.03.2003