Mathematik: Für den keine Stunde schlägt

Ist die Zeit eine Illusion? Ein Physiker reiht sich ein in die ehrwürdige Tradition der Leugner von Tradition.

VON RUDOLF TASCHNER

The End of Time" - das Ende der Zeit, betitelt der theoretische Physiker Julian Barbour einen Bestseller, worin er kühn behauptet, dass die Vorstellung, es gäbe in der Wirklichkeit so etwas wie einen zeitlichen Fluss, eine glatte Illusion sei. Barbour ist der bisher letzte in einer langen Reihe von Denkern, die sich so lange mit dem Phänomen der Zeit abmühten, bis sie deren Existenz ablehnten - um den Preis, dass ihnen tausende Jahre alte Kathedralen wie der Spaziergang vorige Woche oder der eben verflogene Augenblick als Erinnerung an eine Vergangenheit gelten, die es als "Vergangenheit" nie gegeben hat.

Parmenides von Elea war wohl der erste, der logisch die Idee von Vergänglichkeit verwarf: Er versuchte, sich dem Rätsel zu stellen, wie es dazu kommt, dass Tag und Nacht einander ablösen, dass der Lauf des Jahres die Sonne lang oder kurz leuchten lässt und wie die Elemente einander die Waage halten, kurz: wie das Seiende ins Sein gekommen ist. Wobei er behauptet, dass derartiges Sprechen von Werden und Verfall in sich widersprüchlich sei: Die Vorstellung, etwas entstünde aus ,,dem Nichts" oder etwas verginge ,,ins Nichts" sei völlig unhaltbar. Damit ist jede Bewegung bloß Schein, jede Veränderung Trugbild, Entstehen und Vergehen in der Zeit könne es gar nicht geben.

Sein Schüler Zenon von Elea belegt dies mit dem ,,fliegenden Pfeil": Stellt man sich einen Pfeil im Flug vor, steht unleugbar fest, dass er in jedem Augenblick eine bestimmte Stelle des Raumes einnimmt, d.h., in jedem Augenblick an einer bestimmten Stelle ruht. Wenn aber der Pfeil in jedem Augenblick ruht - wie gelingt es ihm, eine Stelle zu verlassen und zu einer anderen zu gelangen?

Entgegnet der verwirrte Zuhörer, man sehe doch, dass sich der Pfeil im Flug bewegt, antwortet Zenon: So betrügen uns die Sinne! Ähnliches erleben wir, wenn wir einen geraden Stab, ins Wasser gesteckt, geknickt wahrnehmen. Wem ist mehr zu vertrauen, fragt Zenon rhetorisch, den sinnlichen Eindrücken, die uns so oft in die Irre führen, oder der glasklaren Logik mit ihren unbezweifelbaren Schlüssen?

Platon hat in seiner Unterscheidung einer unvergänglichen Welt der Ideen und der trügerischen Welt der Sinne Parmenides aufgegriffen, über ihn setzte sich die Tradition in mannigfachen Abwandlungen fort, über Spinoza und Schopenhauer bis zu Einstein mit seinem berühmten Diktum: "Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur eine Täuschung, wenn auch eine hartnäckige."

Ganz anders Newton, der eine "absolute, wahre und mathematische Zeit" postulierte, die "an sich und vermöge ihrer eigenen Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand" verfließe. Diese Vorstellung verfestigte sich so sehr, dass Kosmologen den scheinbar objektiv gegebenen Fluss der Zeit in Gedanken nach rückwärts zu einem ominösen Anfang abzuspulen versuchen: Der "Big Bang" stelle das singuläre Ereignis dar, an dem das Universum seinen Anfang nahm - wobei die Vorstellung eines "Ereignisses", bei dem Raum und Zeit selbst "beginnen" sollten, in Wahrheit das Denken überfordert.

Tatsächlich entwirft Newtons Physik, seiner eigenen Definition zum Trotz, ein völlig anderes Bild der Zeit: nicht die Zeit "verfließt", wir sind es, die altern, die Objekte des Kosmos sind es, die "verfließen". Die Zeit selbst symbolisiert Newton geometrisch als eine starre Skala, vergleichbar mit dem Zifferblatt einer Uhr, an der entlang die Objekte der Welt von der Vergangenheit in die Zukunft getrieben werden. Relativitäts- und Quantentheorie nahmen der Zeitskala Newtons ihre Starrheit, bis sich diese - in der Vorstellung von Julian Barbour - in einem unveränderlichen Nebel von Quanten-Wahrscheinlichkeiten hie und da zu lokalen "Zeitkapseln" verdichtet.

Die Zeit, eine Illusion? Das trifft auch auf andere Größen zu, die man so messen kann wie die Zeit mit einer Uhr: zum Beispiel die Temperatur, die Galilei mit einem Thermometer zu messen lehrte. Auch sie verliert sich ins Nichts, wenn man von einem Gefüge von Myriaden von Molekülen zu einzelnen Atomen oder Elementarteilchen übergeht: Ein einzelnes Elektron hat einfach keine Temperatur. Und dennoch ist Temperatur ein für unsere Existenz fundamentaler Begriff: Über/Unterschreitungen unserer Körpertemperatur von 37 Grad um wenige Grad bedeuten den sicheren Tod.

So gesehen verlieren Feststellungen, dass Begriffe wie Zeit oder Temperatur Illusionen seien, ihre beunruhigende Schärfe. Sie zwingen jedoch eine dahinter lauernde Frage auf: Was erlaubt überhaupt die Erfindung solcher Begriffe? Bei der "Temperatur" hat vor hundert Jahren Ludwig Boltzmann gezeigt, dass die mathematische Statistik die Bildung des Begriffs ermöglicht, und bei der "Zeit" ist es wohl ebenso ein fundamentales mathematisches Konzept - jenes der Stetigkeit, ein von Newtons Widersacher Leibniz, geprägtes Wort -, das ihm zugrunde liegt.

Julian Barbour, der charmante und charismatische Privatgelehrte, der nach einem Physik- und Mathematikstudium seit 1969 in einem britischen Landgut Unterhalt für seine sechsköpfige Familie mit der Übersetzung russischer Wissenschaftsliteratur verdiente und es sich vor acht Jahren leisten konnte, allein seinen Interessen über die seiner Ansicht nach fundamentalen Konzepte der Physik zu frönen, ist ein Anhänger des Parmenides reinsten Wassers: Seine zeitlose Welt heißt "Platonia", ist eine unveränderliche, komplexe geometrische Konfiguration, deren lokale Asymmetrien dafür sorgen, dass auch die Illusion der Zeit asymmetrisch ist, dass es also zwar eine Erinnerung an die Vergangenheit, aber nur eine vage Vorstellung von der Zukunft gibt. Man muss sich Julian Barbour als glücklichen Menschen denken, schlägt doch für ihn keine Stunde ?

Julian Barbour: The End of Time. Hardcover Weidenfeld & Nicholson, 1999, Paperback Oxford University Press 2001.
Rudolf Taschner spricht über "Die Erkundung der Bewegung - Sir Isaac Newton" im Rahmen der "Meilensteine der Mathematik" am 14. April um 19 Uhr im math.space, MuseumsQuartier Wien.


DIE PRESSE, 13.04.2004