Taschner: "Wie sind Sie da draufgekommen?"

VON THOMAS KRAMAR

Anlässlich seiner Wahl zum "Wissenschaftler des Jahres": Gespräch mit einem Mathematiker, der in der Lehre stets Neues entdeckt.

Mathematiker Rudolf Taschner über 5 und pi, Beethoven und Donald Duck

Die Presse: Haben Mathematiker so etwas wie ein Initiationserlebnis?

Rudolf Taschner: Menschen, die prädestiniert sind für die Mathematik, schon. Etwa Gauß mit seiner berühmten Summe von 1 bis 100 in der Volksschule: Mit 16, 17 Jahren hat er dann überlegt, ob er nicht doch Altphilologe werden soll. Dann hat er gefunden, dass er das regelmäßige Siebzehneck mit Zirkel und Lineal konstruieren kann; und so hat er gewusst: Ich bin doch Mathematiker! Aber so etwas habe ich nie geglaubt. Mir ist auch die Lehre viel wichtiger als das Tüfteln. Wenn man tüftelt und nicht wirklich hervorragend ist, dann schiebt man, wie die Mathematiker sagen, ein Epsilon nach vorne, also ganz wenig. In der Lehre ist das Spannende, dass man Gedanken der Großen nachdenken kann - wie man ein Schubert-Quartett beliebig oft hören kann und immer noch Neues entdeckt.

Gibt es ein Gebiet in der Mathematik, das Sie unsympathisch finden?

Taschner: Es gibt ein paar Sachen, wo man sagt: Das ist noch nicht so schön. Etwa der Vier-Farben-Satz in der Graphentheorie (dass man für keine Landkarte mehr als vier Farben braucht, sodass keine aneinander grenzenden Länder dieselbe Farbe haben): Der ist schon interessant, aber so, wie er bis jetzt bewiesen worden ist, mit dem Computer, ist er nicht das Gelbe vom Ei. Der berühmte Mathematiker Paul Erdös hat ja gemeint, Gott hat das Buch geschrieben, wo alle schönen Beweise drinnen sind. Dieser Gott war ein böser Gott, ein Oberfaschist, so hat ihn Erdös genannt: Er gibt uns das Buch nicht. Wir müssen uns die Beweise mühsam herausstehlen. Der Beweis des Vier-Farben-Satzes, so wie er jetzt ist, ist jedenfalls sicher keiner aus diesem Buch. Was wir Mathematiker immer suchen, ist Eleganz, Schönheit.

Haben Sie eine Lieblingszahl?

Taschner: Ja, natürlich. Unter den kleinen Zahlen ist es 5. Schon beim Würfeln gefällt mir 5 mit dem eleganten Punkt in der Mitte besser als 6 mit dieser Zweierreihe. 5 ist auch in der Zahlentheorie wichtig, bei der Suche nach den so genannten Primitivwurzeln. 5 hatte eine Bedeutung bei den Pythagoräern, beim Pentagramm. 5 ist auch, glaube ich, die erste wirkliche Zahl: Wenn Sie 1, 2, 3 Dinge sehen, sehen Sie immer nur Einheiten, bei 4 klappt das auch noch, aber bei 5 muss man wirklich zählen.

Und bei den irrationalen Zahlen? Was ist Ihnen lieber, e oder pi?

Taschner: pi ist interessanter; e ist eher regelmäßig, es hat z. B. eine Kettenbruchentwicklung, die man genau kennt. Bei pi kennt man die nicht. pi ist schon sehr geheimnisvoll. Aber es gibt noch ärgere Zahlen, z. B. die Reihe 1+1/2^3+1/3^3+1/4^3+1/5^3+ . . ., da weiß man nicht, was herauskommt. Euler vermutete: etwas mit dem Logarithmus von 2, aber das ist nicht bewiesen. Vor 20, 30 Jahren hat man gezeigt, diese Zahl ist irrational, zeta(3) heißt sie, das ist das Einzige, was man von ihr weiß.

Wie behält die Geometrie ihren Reiz?

Taschner: Die Pythagoräer wollten ja keine Geometer sein, sondern Arithmetiker, alles auf die Zahlen zurückführen. Doch das hat nicht geklappt. Wenn man die ganzen Zahlen auf der Zahlengerade aufträgt, hat man ja viel Platz dazwischen. Wie fülle ich den Platz aus? Mit Dezimalzahlen: Zehntel, Hundertstel, Tausendstel, . . . Aber ich kann Dezimalzahlen nehmen, so viel ich will, immer wird Platz dazwischen sein. Jetzt ist die Frage: Was ist dieser Hintergrund? Sie können auch rationale Zahlen nehmen, das würde auch nichts helfen, immer bleibt dieser Hintergrund. Den setzt der Geometer sozusagen voraus: Das ist die Gerade.

Die Geometrie muss also eine eigene Sprache entwickeln. Hilbert hat gezeigt, dass man diese Sprache schon arithmetisieren kann, wenn man nicht die Arithmetik der Pythagoräer nimmt, sondern der Cantorschen Mengenlehre oder des Brouwerschen Intuitionismus, und das ist es, was mich interessiert. Eben diese Frage: Was ist der Hintergrund der rationalen Zahlen?

Na, die reellen Zahlen!

Taschner: Ja, aber was sind die? Was ist eine reelle Zahl? Die meisten sagen, eine reelle Zahl ist genauso da wie eine rationale Zahl, vorgegeben, ein Punkterl halt. Die Intuitionisten, zu denen muss ich mich bekennen, sagen: Nein, das ist ein Prozess des freien Werdens, wie L. E. J. Brouwer sagt. Ich kann beliebig viele Stellen angeben, aber alle Stellen - das ist verboten. Dann entsteht eine andere Mathematik, die konstruktive oder intuitionistische Analysis.

Da gibt es z. B. einen Satz der formalen Mathematik: Wenn eine stetige Funktion zwischen -1 und +1 definiert ist und man weiß, dass sie bei -1 negativ und bei +1 positiv ist, dann kann man sagen: Die Funktion muss irgendwo die x-Achse schneiden. Brouwer sagte: Das kann ich nicht beweisen. Und er nannte Beispiele, wo man den Schnittpunkt nicht finden kann.

Aber es gibt auch schöne Sätze in der Brouwerschen Theorie, die in der formalen nicht stimmen. Zum Beispiel: Eine Funktion, die zwischen -1 und +1 definiert ist für alle reellen Zahlen - sagen Sie, ich sag lieber reelle Größen, weil Zahl ist der arithmos, das fest Vorgegebene -, muss stetig sein. Sie werden einwenden: Bitte, sie kann doch bei 0 springen. Dann sag ich dazu: Ja, bei 0 . . . - wann weiß ich, dass ich wirklich 0 habe? Die Funktion ist eben bei 0 nicht definiert. Wenn die Funktion wirklich überall definiert ist, dann muss sie stetig sein. Das ist, finde ich, ein wunderbarer Satz: dass eine Funktion unbedingt stetig sein muss. So wie Leibniz sagt: Natura non facit saltus.

Kann Verlust der Anschauung bei der Einsicht in die Mathematik helfen?

Taschner: Ja. Wie bei Beethoven, wo man die letzten Quartette fast nicht mehr spielen kann, weil die Musik schon so abstrakt geworden ist. Die Sinne sind natürlich auch Gefängnisse. Auch die moderne Geometrie wird immer abstrakter. Einer der größten geometrischen Denker, Lew Pontrjagin, ein Russe, war interessanterweise blind, wenn auch nicht von Geburt an.

Was sind die schlimmsten Fehler, die ein Mathematiklehrer machen kann?

Taschner: Dass er zu schnell sagt: Das ist falsch. Ich sag das ganz selten. Ich sag immer: Wie sind Sie da draufgekommen? Mich interessiert, wie andere Leute denken. Mich interessiert das Verstehen. Ich glaube fast, dass die Philosophen irren, wenn sie die Ontologie, die Lehre von der Existenz, als grundlegende Disziplin betrachten. Es existiert immer dann etwas, finde ich, wenn man weiß, man hat es verstanden.

Also existieren die Zahlen?

Taschner: Ja, ja, genau: Die Zahlen sind etwas, was existiert.

Aber das ist doch eine andere Existenz als die der Dinge der sinnlichen Erfahrung?

Taschner: Ja, eine viel tiefere.

Sie sind also Platoniker?

Taschner: Noch viel mehr, ich bin Pythagoräer. Natürlich. Das ist es ja, was die Mathematik so faszinierend macht. Das Weltall mag vergehen, aber der Primzahlsatz wird auch bestehen, wenn es vergangen ist. Es ist irrelevant, ob der Sirius leuchtet oder nicht, aber es ist relevant, ob die Riemannsche Vermutung stimmt. Warum gibt es aber dieses Gefühl von Objektivität? Warum hat jemand das Empfinden, dass er eine Intuition hat, eine Einsicht, die gleichsam nicht aus ihm selbst kommt, die nicht irgendwie konstruiert ist? Das ist ein tiefes Geheimnis: Wo befindet sich dieses Objekt, die Zahl?

Es ist, glaube ich, keine Welt vorstellbar, in der etwa 4 eine Primzahl ist.

Taschner: Gut, da könnte man sagen: Das ist ein analytisches Urteil. Aber die Mathematik scheint doch aus synthetischen Urteilen a priori zu bestehen. Das war ja die große Einsicht Kants. Er hat das leider an der euklidischen Geometrie festzumachen versucht. Wenn er die Arithmetik als Grundlage genommen hätte und, sagen wir, den Satz, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, als synthetisches Urteil a priori hingestellt hätte, was würde man ihm dagegenhalten?

Das ist nämlich wirklich eines. Es ist beweiswürdig. Man kann es begründen, und zwar so, dass jeder sagt: Ja, das sehe ich ein. Und zwar nicht so, dass man ein Tuch wegnimmt und sagt: Schau, da sind unendlich viele Primzahlen. Das kann ja kein Mensch. Sondern dass man zeigt, dass eine endliche Liste von Primzahlen nie vollständig sein kann. Wie es Euklid gezeigt hat: Wenn jemand eine Liste von endlich vielen Primzahlen präsentiert, dann multipliziere ich die alle und addiere 1 dazu. Das Ergebnis ist keinesfalls teilbar durch die Primzahlen, die er hat. Dieses Argument ist überzeugend: Man hat eine Erkenntnis gewonnen, die man vorher nicht hatte. Es ist offensichtlich keine Tautologie. Warum? Weil das Unendliche mit hineinspielt. Nur wenn ich über Endliches spreche, habe ich Tautologien.

Es gibt einen Satz, dass jede ungerade Zahl ab 7 als Summe von drei Primzahlen dargestellt werden kann. Winogradow hat bewiesen, dass das von einer Zahl an für alle weiteren stimmt. Bis zu dieser Zahl kann man das ja nachrechnen. Die ist zwar so riesengroß, dass kein heutiger Computer bis zu ihr kommt. Trotzdem ist das für die Mathematik nicht mehr interessant, nur eine buchhalterische Frage. Aber dass es von der Zahl an für alle weiteren gilt: Das kann ich mit Computer nicht nachprüfen. Das ist interessant. Und das ist auch wirklich ein synthetisches Urteil a priori. Drum ist die Mathematik wirklich, wie Weyl sagt, die Wissenschaft vom Unendlichen: Weil es dort keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt.

Die Journalisten "schenken" Ihnen heute einen Stern. Welchen hätten Sie am liebsten?

Taschner: Den Asteroiden B612.

Den vom "Kleinen Prinz"? Sie mögen das?

Taschner: Ja, der ist schon süß kitschig. Ich mag den Kitsch.

Gibt es auch mathematischen Kitsch?

Taschner: Nein, es gibt auch kein Pathos in der Mathematik. Mathematik ist frei von Pathos. Sie ist wie die Donald-Duck-Geschichten von Carl Barks, die ich auch sehr mag, sie sind nicht kitschig, nicht pathetisch, sie sind ganz anders.


DIE PRESSE, 18.01.2005