Noch nie so geplagt

VON RUDOLF TASCHNER

Die Physik ist mehr als eine mathematisch-axiomatische Theorie: Das zeigt auch die Geschichte der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Wie Einsteins Respekt für die Mathematik wuchs

Das Jahr 1900 war ein Wendejahr der Physik: Max Planck entdeckte ein "revolutionäres" Naturgesetz, aus dem sich die spätere Quantentheorie entwickelte. Das Jahr 1900 war aber auch für die Mathematik bedeutend: Beim mathematischen Kongress in Paris hielt David Hilbert, damals neben Henri Poincaré der exzellenteste Mathematiker der Welt, einen Vortrag, worin er 23 Probleme benannte, welche die Mathematik des 20. Jahrhunderts beschäftigen würden.

Das sechste Problem dieser Liste schlägt die Brücke von der Mathematik zur Physik. Hilbert formulierte es so: "Durch die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie wird uns die Aufgabe nahe gelegt, nach diesem Vorbilde diejenigen physikalischen Disziplinen axiomatisch zu behandeln, in denen schon heute die Mathematik eine hervorragende Rolle spielt." Mit anderen Worten: Die theoretische Physik soll als verschleierte Mathematik entlarvt werden.

Mit der Formulierung der Speziellen Relativitätstheorie, auch 1905, erschütterte und bestärkte Albert Einstein zugleich den von Hilbert erhobenen Anspruch: Er erschütterte ihn, weil die mathematischen Formeln für diese Theorie vom Mathematiker Poincaré bereits gefunden waren, sie wurden nur nicht richtig physikalisch verstanden. Die Physik ist eben doch mehr als eine axiomatisch-mathematische Theorie. Und er bestärkte ihn, denn Hermann Minkowski, Einsteins Mathematikprofessor aus Zürich, nun bei Hilbert in Göttingen, wandelte 1907 Einsteins Gedanken zum Wesen von Raum und Zeit in eine mathematische Theorie um: Die drei Raumdimensionen und die eine Zeitdimension werden zum vierdimensionalen mathematischen Kontinuum verschmolzen. Als Einstein dies zum ersten Mal las, seufzte er, nun verstehe er seine eigene Theorie nicht mehr.

Was nicht lange währte. Eben Minkowskis Geometrie legte die mathematische Grundlage für die Entwicklung der auf die Spezielle folgenden Allgemeinen Relativitätstheorie (ART). Den physikalischen Ansatz hatte Einstein rasch erfasst: "Ich saß auf meinem Stuhl im Patentamt in Bern. Plötzlich hatte ich einen Einfall: Wenn sich eine Person im freien Fall befindet, wird sie ihr eigenes Gewicht nicht spüren. Ich war verblüfft. Dieses einfache Gedankenexperiment machte auf mich einen tiefen Eindruck." Aber die zugehörige Mathematik erwies sich als höchst anspruchsvoll. "Großmann, du must mir helfen!" appellierte Einstein an seinen Freund, den Mathematiker Marcel Großmann, der in Zürich Darstellende Geometrie lehrte und sich tatsächlich zusammen mit Einstein nicht nur in die Minkowskische, sondern in die weit diffizilere Riemannsche Geometrie einarbeitete: "Ich beschäftige mich jetzt ausschließlich mit dem Gravitationsproblem und glaube nun, mit Hilfe eines hiesigen befreundeten Mathematikers aller Schwierigkeiten Herr zu werden. Aber das eine ist sicher, dass ich mich im Leben noch nie annähernd so geplagt habe, und dass ich große Hochachtung für die Mathematik eingeflößt bekommen habe, die ich bis jetzt in ihren subtileren Teilen für puren Luxus ansah."

Sieben Jahre dauerte es, bis die Theorie endlich mathematisch einwandfrei formuliert war. Sieben aufregende Jahre, denn Konkurrenten wie Max Abraham oder Gustav Mie versuchten Gegenentwürfe, die sich zu Einsteins Erleichterung als haltlos erwiesen. Aber just sechs Tage, bevor Einstein seine endgültige Theorie am 25. November 1915 präsentierte, legte David Hilbert in einer Mitteilung an die "Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen" genau die Gleichungen vor, nach denen Einstein so lange gesucht hatte - und dies nach einem regen Gedankenaustausch zwischen Hilbert und Einstein, der Wochen und Tage zuvor an Intensität zunahm.

Klar, dass es danach zu einer Verstimmung zwischen den beiden kam, die jedoch ausgeräumt wurde. "Es ist objektiv schade, wenn sich zwei Kerle, die sich aus dieser schäbigen Welt etwas herausgearbeitet haben, nicht gegenseitig zur Freude gereichen", schrieb Einstein an Hilbert, der seinerseits freimütig Einstein als alleinigen Schöpfer der Relativitätstheorie anerkannte.

Zweifellos, die ART "gehört" Einstein, es gibt kaum eine mathematische oder physikalische Theorie, die so untrennbar mit ihrem Schöpfer verbunden ist. Wobei völlig offen bleibt, ob nicht ähnlich große Denker - wie z. B. Poincaré oder Minkowski - zu den gleichen Ergebnissen gelangt wären. Wohlgemerkt mathematisch, nicht physikalisch: Denn den entscheidenden Gedanken der Äquivalenz von schwerer und träger Masse hatte allein Einstein selbst. Jedoch: Poincaré verstarb 58-jährig 1912 in Paris, Minkowski 44-jährig 1909 in Göttingen.

Rudolf Taschner und Franz Embacher sprechen am 2. März um 19 Uhr in der "math.space"-Reihe "Einstein rechnet" im Auditorium des Mumok (Museumsquartier) zum Thema "Wer mit Einstein rechnete".


DIE PRESSE, 28.02.2005